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Ob die Wiege des bayerischen Wintersports am Spitzing stand? Seit über einem Jahrhundert hat sich jedenfalls nichts an der Attraktivität des Gebiets geändert. Egal, ob mit oder ohne Schneeschuhe – ein Wintertag am Spitzing ist immer besonders.
Text: Andrea Strauß, Fotos: Andreas Strauß, alpinwelt 4/2022
Wir stehen allein am Gipfel – obwohl die Sonne scheint und es so spät am Vormittag ist, dass die halbe Million Münchner, die auch wochentags Zeit für einen Genusstag am Spitzing hat, längst mit uns am 1746 Meter hohen Jägerkamp stehen müssten. Haben wir etwas verpasst? Ist schon wieder Lockdown? Vielleicht haben wir einfach einen jener seltenen Wintertage erwischt, an dem der Schnee für Skitouren noch nicht reicht und die Winterwanderer an einem der anderen Berge sind, weil sie befürchtet hatten, dass es am Jägerkamp zu voll wäre.
Über Besuchermangel kann sich das Spitzinggebiet nicht beklagen. Nur 58 Kilometer Luftlinie trennen den Fischbrunnen am Marienplatz vom Kachelofen-Platz der Albert-Link-Hütte. Was einst schon wichtig war und heute wieder an Bedeutung gewinnt, ist die gute Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Bahnstrecke von München nach Fischhausen-Neuhaus war selbst zwischen den Kriegen eine rege genutzte Verbindung für Wochenendausflügler, egal, ob sie im Sommer zum Wandern gehen wollten oder im Winter zu Brecherspitz (1683 m), Jägerkamp (1746 m) und Rotwand (1834 m) unterwegs waren. Weit über 100.000 Wintersportler will der Leiter der Bahnhöfe Schliersee und Fischhausen im Jahr 1930 gezählt haben. Für die Rückfahrt nach München standen abends sogar bis zu zwölf Sonderzüge bereit. Wen es heute wurmt, dass der Käsekuchen auf dem Rotwandhaus schon aufgegessen wurde, sollte sich den Andrang von damals vor Augen halten. Und überhaupt: Man reiste mit der Bahn an, stieg zu Fuß auf (der erste Sessellift ging ab 1949 zum Stümpfling) und hatte entweder Ski oder Schneeschuhe unter den Sohlen. Mehr als zwei Gipfel am Tag waren utopisch, selbst später, als die ersten Lifte fuhren. Legendärer als der Anstieg aber muss damals der Rückweg gewesen sein. Ganze Rechenformeln wurden aufgestellt: Zeitpunkt des Endes der Gipfelpause plus halbe Aufstiegsdauer plus drei Stürze (Skifahrer) = letzter Zug nach München. Da abgesehen vom Pfiff des Schaffners beim Abfahren des Zuges alles andere Variablen waren, sollen die Szenen am Weg hinab ins Josefsthal, der ab den 30ern als Stockerabfahrt freigeschnitten war, abenteuerlich gewesen sein.
Heute jedenfalls ist es ungewöhnlichstill am Jägerkamp. Wir genießen die Sonneund den Ausblick. Was das Panorama angeht, bekommt der Jägerkamp von mir die Bronzemedaille: Man sieht alle wichtigen Spitzinggipfel und im Osten zusätzlich den Wendelstein (1838 m), die Chiemgauer Berge und die Berchtesgadener, im Süden die Zillertaler und das Karwendel und im Westen die Zugspitze (2962 m). Silber bekommt die Brecherspitz: Nirgends ist der Tiefblick auf den Schliersee besser. Und Gold geht natürlich an die Rotwand: Sie ist nicht nur der höchste Gipfel rundum, sondern ebenso der beste Aussichtsberg – spitzingweit, bayernweit, weltweit. Zumindest für mich, bis man mir das Gegenteil beweist!
Ortswechsel, einige Wochen später. „Das muss der Großglockner sein.“ Zwei Winterwanderer lassen auf der Rotwand die Gipfelbestimmungs- App für sich arbeiten und blicken andächtig auf die Hohen Tauern. Die restlichen Rotwandbesteiger blicken in der Zwischenzeit pikiert auf das Schuhwerk der beiden: Turnschuhe, erkennbar auch ohne App. Bis hinauf zum Rotwandhaus mag man darüber noch schmunzeln. Die Straße ist von der Pistenraupe des Wirts meist gut präpariert, nur wenn der Schnee an warmen Tagen weich wird, ist es mühsam. Für den Gipfelanstieg ab dem Rotwandhaus gibt es aber bestenfalls eine Fußspur. Wenn der Schnee tief ist, wird man um Schneeschuhe froh sein. Wenn die Spur hart ist, sind Grödel oder Spikes ein Muss – so wie übrigens auch ein LVS. Turnschuhe dagegen – keine gute Idee. Zumal sich für das „Nervenberuhigungsschnapserl“ am Rotwandhaus sicherlich tausend andere Ausreden finden lassen.
Rotwand, Jägerkamp und Brecherspitz sind nur drei von vielen Spitzinggipfeln, die wir uns mit den Dohlen teilen. Auf sechs weiteren haben wir im Winter nichts zu suchen – sie gehören ganz dem Wild. Auf das Trio Rainerkopf, Wasserspitz und Rinnenspitz sowie den Dürrmiesing sind winterliche Touren zum Schutz von Wald und Wild unerwünscht. Benzingspitz und Lämpersberg liegen im neuen Wildschutzgebiet, hier sind Touren zwischen dem 1. Dezember und dem 14. Juli schlicht verboten. Wir haben hier nichts zu suchen, selbst eine bereits vorhandene Spur ist da kein Argument. Was sich wie ein großer Verzicht anhört, fällt den meisten Sportlerinnen und Sportlern aber leicht. Sie merken nicht einmal, dass sie auf etwas verzichtet haben, denn Rinnenspitz (1611 m) und Co. sowie der Dürrmiesing (1863 m) sind schon im Sommer die Aschenputtel der Gegend und im Winter erst recht kein Ziel. Zur Benzingspitz (1735 m) und zum Lämpersberg (1817 m) wiederum gibt es so viele schöne Alternativen, dass das Wörtchen „Verzicht“ schon fast irreführend ist. Nein, wirklich, am Spitzing gibt es so viele herrliche Wintertouren, dass es weder stört, dass hier schon unsere Großeltern und Eltern unterwegs waren, noch, dass wir ein paar wenige Gipfel im Winter nicht besteigen.
Gestatten, Herr und Frau Brecherspitz
Es soll Menschen geben, die heißen mit Nachnamen Brecherspitz. Nicht etwa, weil ihre Eltern schon so geheißen hätten, sondern weil sie bei jeder Gelegenheit auf die Brecherspitz gehen. Im Sommer wie im Winter. Warum auch nicht? Direkt von der Bushaltestelle am Spitzingsattel geht´s los. Morgens begleiten uns noch zarte Atemwölkchen, während wir auf der Straße zur Oberen Firstalm aufsteigen. Schneeschuhe brauchen wir nicht, denn Wanderer, Schlittenfahrer (und die Schneeraupe der Firstalm) haben den Schnee so verdichtet, dass es ähnlich mühelos hinaufgeht wie im Sommer. Erst dort, wo wir kurz vor der Oberen Firstalm rechts abzweigen und den Verlockungen eines zweiten Frühstücks sowie später dem Biergulasch oder dem Firstalm-Wild- Burger noch eine Weile widerstehen, zeigt sich, ob wir wirklich ohne Schneeschuhe auskommen. Knappe 300 Höhenmeter sind es noch bis zum Vorgipfel der Brecherspitz. Der Blick ist von hier am besten, die meisten – ob mit Tourenski, Schneeschuhen oder Winterstiefeln an den Sohlen – lassen es gut sein und verzichten im Winter auf den Hauptgipfel.
Zwingend nötig sind die breiten Löffel unter den Sohlen heute nicht. An vielen Stellen verraten verschneite Gräser vom letzten Sommer, dass die Schneedecke zwar mehr als mausknöcheltief ist, aber nicht viel mehr als turnschuhoberkantentief. Nur hin und wieder hat der Wind eine Mulde mit Schnee aufgefüllt und wir sinken bis zum Knie ein. Abgesehen von Extremverhältnissen kann man den Brecherspitz-Vorgipfel ohne Bedenken im Winter empfehlen – auch das trägt zur Beliebtheit bei. Man kann sich an die Sommerwegtrasse halten und steigt nach dem Straßenabschnitt meist in der Fußspur der Vorgänger auf. Oben warten verschneite Zwergerlfichten-Romantik und der Blick auf viele, viele weitere Gipfel – silbermedaillenwürdig eben. Für den restlichen Tag kann man sich am Gipfel verratschen, auf der Oberen Firstalm bei Biergulasch oder Kaiserschmarrn schlemmen, auf der Unteren Firstalm bei Saiblingsfilet oder Lammrücken genießen, mit dem Schlitten hinunter zum Sattel fahren, über den zugefrorenen See spazieren, unten in Schliersee einkehren – oder als zweiten Gipfel zur Bodenschneid (1668 m) aufsteigen.
Die Bodenschneid ist das Gegenstück zur Brecherspitz: Vom Spitzingsee aus gesehen steht sie in der zweiten Reihe, ist anspruchsvoller und entsprechend seltener besucht. Solange die Landschaft zwar weiß ist, der Winter aber noch keine Schneemengen gebracht hat, ist der Sommerweg schon deshalb der schönste Anstieg, weil es oben über den Südostrücken geht. Von der Brecherspitz sieht man ihn wunderbar ein. Bei mehr Schnee empfiehlt es sich, weit rechts auszuholen und über das Bodenschneidhaus zu gehen. Was das Gipfelpanorama angeht, sind Gold, Silber und Bronze zwar schon vergeben, aber es gibt ja immer noch den „Sieger der Herzen“: An schönen Tagen ist das Gipfelkreuz der Bodenschneid ähnlich schön wie der Kachelofen der Albert- Link-Hütte und mit 55 Kilometern sogar etwas näher am Marienplatz.
Andrea StraußWie für so viele Münchner ist der Spitzing auch für Andrea Strauß mit Kindheitserinnerungen verbunden – allein deshalb schon ist ein Wintertag an einem der Berge über dem Spitzingsee ein besonderes Erlebnis.