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Die Klimaphysikerin Gabriele Hegerl im Gespräch

"Die Schnelligkeit macht mich traurig"

Gabriele Hegerl ist Klimaphysikerin und seit 20 Jahren an der Erstellung des IPCC-Berichts beteiligt – dem wichtigsten Sachstandsbericht zum Erdklima. Im Interview erklärt die gebürtige Münchnerin, wem man in Sachen Klimawandel glauben darf, warum es auf jeden Einzelnen ankommt und was der DAV tun sollte.

Interview: Thomas Ebert, alpinwelt 3/2022

 

Frau Prof. Hegerl, Ihr Forscherkollege Mojib Latif hat in der SZ erklärt, dass Klimaforscher einen Mittelweg finden müssten zwischen „Verharmlosung und Panikmache“. Was ist Ihr Weg?

Man sollte immer nah an der Wissenschaft bleiben und sich daran orientieren, was sie für wahrscheinlich hält und was sie für möglich hält. Panik hilft niemandem, aber wir müssen auch ein Auge dafür haben, was schlimmstenfalls passieren könnte – auch wenn es nicht das wahrscheinlichste Szenario ist. Mir ist das sehr klar geworden bei den Waldbränden in Kalifornien und in Sibirien. Ich habe mit Bränden gerechnet, aber nicht in diesem Ausmaß.

1990 erschien der erste Sachstandsbericht des IPCC, auch bekannt als „Weltklimarat“. Seit 2000 sind Sie daran beteiligt, vor genau einem Jahr erschien der 6. Bericht. An wen wenden sich diese Berichte?

Der IPCC-Bericht funktioniert als Wechselspiel zwischen den Regierungen und den Wissenschaftlern. Es ist sehr wichtig, dass die Wissenschaft die Politik informiert und sich dabei an den Fragen orientiert, die die Politik stellt – nicht nur beim Klimawandel, sondern beispielsweise auch in der Coronapandemie. Natürlich gibt es dabei auch Diskussionen und unterschiedliche Auffassungen, etwa darüber, welche Themen abgedeckt werden sollen und wie oft der Bericht überhaupt erscheint. Die Politik hätte ihn gerne ständig, wir Wissenschaftler machen ihn am Feierabend neben dem normalen Job.

Der letzte IPCC-Bericht umfasst knapp 4000 Seiten, und das ist nur der Teil der Arbeitsgruppe 1. Wer liest das alles?

Alle jammern über die Wälzer, die wir schreiben. Und im Grunde sind sich alle einig, dass man den Bericht kürzer und verständlicher schreiben müsste. Aber es gibt eben furchtbar viele Themen abzudecken, und wir müssen ja auch darlegen, warum wir uns in manchen Prognosen und Erkenntnissen noch nicht sicher sind. Dieser Wälzer wird dann über mehrere Schritte in eine etwa 30-seitige Kurzfassung destilliert, und diese Kurzfassung wird dann in einer einwöchigen Plenarsitzung Wort für Wort mit Regierungsvertretern diskutiert. Ich war auf drei dieser Plenarsitzungen, das ist jedesmal sehr intensiv, bis die finale Fassung abgesegnet ist. In Amerika lesen übrigens nicht die Politiker den Bericht – ich hatte im US-Kongress mal als Zeuge zum IPCC-Bericht Stellung genommen –, sondern ihr Beraterstab. Für diese Leute ist der Bericht im Wesentlichen verfasst.

Wegen ihrer Topografie stieg die Durchschnittstemperatur in den Alpen sogar noch stärker an: um etwa zwei Grad in den letzten 150 Jahren.

Wo und wie sollte sich denn ein Bergwanderer, dem die Natur am Herzen liegt, über den Klimawandel informieren? Sollten die einfach auf ihre Regierung hören?

Ich glaube, dass alle mit Interesse am Thema die IPCC-Kurzfassung lesen könnten, auch wenn sie hier und da immer noch etwas technisch ist. Und was engagierte Klimaforscher in der Öffentlichkeit erzählen, Jochem Marotzke zum Beispiel oder Reto Knutti aus der Schweiz, das hat schon Hand und Fuß. Bei Politikern muss man immer auch beachten, was sie sonst alles erreichen wollen. Insofern würde ich eher darauf achten, was die Wissenschaftler sagen.

Rückblickend auf 20 Jahre Mitarbeit an den IPCC-Sachstandsberichten: Waren die Berichte erfolgreich?

An und für sich: nicht wirklich, wenn man ganz knallhart fragt, wie schnell wir die Klimaänderung angreifen. Neulich hat eine Freundin, die wirklich nichts dafür kann, über die unerträgliche Hitze in Bayern geschimpft. Ich hab‘ dabei ertappt, wie ich zurückgefaucht habe: „Wir sagen es euch ja auch erst seit 30 Jahren!“ Das ist der Punkt: Wir wissen schon lange, dass wir ein Problem bekommen, und trotzdem war es lange nicht möglich, politisch irgendetwas zu erreichen. Die Klimaänderung ist einfach ein schwieriges Problem, das lange nur nachfolgende Generationen zu betreffen schien. Und jetzt ist sie da. Wir haben vielerorts Hitzerekorde, teilweise kommen die statistischen Modelle nicht mehr mit, wie im Nordwesten der USA.

Wann hat sich dieses Bewusstsein geändert?

Das Jahr 2003 war so ein Weckruf. Man dachte, die Klimaänderung sei etwas Fernes in der Zukunft, und dann kam diese Hitzewelle mit riesigen Folgen, übrigens auch für das Bergsteigen. Das Matterhorn war gesperrt, in den Bergen war es allgemein sehr gefährlich, weil alles so schnell geschmolzen ist. Man hat viel deutlicher gesehen, dass die Klimaänderung da ist, dass sie jetzt geschieht. Dass man nicht mehr so viel Zeit hat, um die schlimmsten Folgen zu verhindern. Und es ist nach wie vor frustrierend zu sehen, dass manche politische Parteien weiterhin zaudern, weil sie befürchten, dass das Anpacken der Klimaänderung der Wirtschaft schadet. Natürlich braucht es Balance und eine Methode, die die Wirtschaft nicht abwürgt. Die komplette Arbeitsgruppe 3 des IPCC-Berichts beschäftigt sich nur damit, wie man diesen Umstieg in der Energieerzeugung schafft, aber es sind nicht alle davon überzeugt, dass jetzt die Zeit zu handeln ist.

Im Radiosender Bayern 2 haben Sie zum Thema „Öko-Trauer“ ein Interview gegeben. Was macht sie am Klimawandel traurig?

Mir tut es einfach leid um das, was wir verlieren. Die Gletscher. Die Korallen. Das Ungewöhnliche an der derzeitigen Erwärmung ist ja ihr Tempo, das ist im erdgeschichtlichen Vergleich seit langer Zeit beispiellos. Den momentanen Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre, sowohl das Niveau als auch die Anstiegsrate, kennen wir aus Eisbohrkernen nicht. Und die gehen immerhin 800.000 Jahre zurück, teilweise sogar bis zu einer Million Jahre. Diese Geschwindigkeit, mit der gerade alles passiert, macht es den Ökosystemen so schwer, sich anzupassen. Auch dem Menschen, übrigens! Und wenn wir jetzt nicht relativ schnell agieren, könnten wir Hitzewellen in Südostasien bekommen, wo es für Menschen draußen zu gefährlich wird. In Australien fallen Flughunde massenhaft aus den Bäumen, weil sie mit den Temperaturen nicht mehr zurechtkommen. Es macht mich traurig, dass es nicht möglich war, früher mit der Umstellung anzufangen. Denn jetzt müssen wir schnell und zackig sein.

Was heißt das konkret? Von welchen Zeithorizonten sprechen wir, was müssten wir tun?

Wir müssen mit den Emissionen auf null. Eine der wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse war, dass die globale Erwärmung ziemlich genau mit dem CO2-Ausstoß korreliert. Es ist ein bisschen Zufall, dass sich dieser Zusammenhang so schön ausgeht – da gleichen sich ein paar Prozesse aus, die gegeneinander arbeiten –, aber sowohl in den Modellen als auch in den Beobachtungsdaten sieht man, dass das gut korreliert. Und das bedeutet: Wenn man eine gewisse Temperaturgrenze nicht überschreiten will, dann ist es irgendwann aus mit dem CO2-Ausstoß, also Netto-Ausstoß. Um etwa das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, müssten wir unglaublich schnell Emissionen herunterfahren, und zwar in einem Tempo, wo ich Schwierigkeiten habe, mir vorzustellen, wie das gehen kann. Außer die Umstellung auf alternative Energien geht jetzt schneller, als es momentan absehbar ist.

Was antworten Sie Menschen, die sagen: Meine Bergtour mit dem Auto reißt es im Vergleich zu den Emissionen von der Landwirtschaft, vom Bausektor oder von der Großindustrie auch nicht mehr raus?

Mit dem Finger auf andere zu zeigen, ist selten ein nützlicher Ansatz. Fest steht: Der Umstieg weg von fossilen Energieträgern ist ein riesiger Punkt, der ganz klar auf Regierungsebene liegt. Wir brauchen strukturelle Änderungen bei der Energieerzeugung, und das ist gerade in Deutschland schwierig, weil wir eigentlich nur die nachhaltigen Energien oder die Kohle haben. Kernenergie wird ja aus verständlichen Gründen nicht genutzt. Auf der anderen Seite kommt es schon darauf an, was man als Einzelner macht. Als Bürger einer westlichen Industrienation verbrauchen wir ja doch wesentlich mehr Energie als jemand in einem Entwicklungsland – und dabei spielt auch die Mobilität eine Rolle. Es ist klar, dass man den Klimawandel nicht in einem Einzelfeldzug verhindern kann. Trotzdem muss jeder seine eigene Gratwanderung gehen, bei der er man das tut, was man möchte – aber so, dass es nicht viel Energie verbraucht oder Emissionen verursacht. Gerade in den bayerischen Bergen kommt man ja zum Beispiel mit dem Zug relativ weit. Man sollte sich aber nicht unbedingt an dem Ziel reiben, sofort auf null Emissionen zu kommen. Es wäre schon ein Riesenschritt, wenn jeder seinen Ausstoß erstmal halbieren würde, zum Beispiel indem man als Fahrgemeinschaft in die Berge fährt, weniger Fleisch isst, weniger Strom verbraucht oder eine Solaranlage montiert.

Weckruf 2003: Im „Jahrhundertsommer“ wurden viele hochalpine Touren brandgefährlich, u. a. wurde das Matterhorn nach einem Felssturz für mehrere Tage gesperrt.

Sie haben gesagt, das Abschmelzen der Gletscher mache Sie traurig. Provokant gefragt: Warum denn? Natur ist immer im Wandel, und noch vor 150 Jahren waren viele Alpenbewohner froh, wenn die wachsenden Gletscher ihre Orte verschont haben.

Es ist die Schnelligkeit, die mich traurig macht. Das Tempo des Klimawandels macht es der Natur so schwer, sich anzupassen. Anpassung dauert. Viele Küstenregionen könnten sich an einen Anstieg des Meeresspiegels anpassen, Sumpfgebiete könnten anwachsen, Barriereinseln könnten wandern – aber nicht in dem irrsinnigen Tempo. Und zu den vorstoßenden Gletschern: Zusammen mit den Schweizern hatten wir da ein großes Forschungsprojekt zum 19. Jahrhundert. Wir haben den Großen Grindelwaldgletscher und andere Alpengletscher angeschaut und konnten ganz gut erklären, warum die damals vorgestoßen sind: weil es zwei Vulkanausbrüche gab, darunter der berühmte Tambora-Ausbruch von 1815. Die haben die Kleine Eiszeit noch kälter gemacht. Stefan Brönnimann aus der Schweiz hat dann mit seinen Niederschlagsdaten festgestellt, dass es – wahrscheinlich zufällig – auch noch eine sehr nasse Wetterperiode war. Dadurch sind die Gletscher bis etwa 1850 gewachsen. Dann hat sich die Entwicklung umgekehrt, weil wir langsam aus der Kleinen Eiszeit heraus und gleitend in die Erwärmung hineingekommen sind, die durch die Industrialisierung verursacht wurde und seit 1950 noch schneller abläuft.

Was halten Sie aus moralischer Sicht von der Gletscherkonservierung, also das Abdecken mit Folien, Snowfarming oder die künstliche Beschneiung, etwa am Morteratschgletscher?

Das kann ich schwer beurteilen, weil ich von den Ideen im Einzelnen die Nebenwirkungen nicht abschätzen kann. Die sind da nämlich oft meine Sorge. Es gibt ja auch Ansätze, einen künstlichen Vulkanausbruch in der Stratosphäre zu veranstalten und damit die Erwärmung vermutlich ein bisschen zurückzukehren. Aber alles kriegt man damit auch nicht hin. Es kann sein, dass die Ozonschicht zerstört wird. Und das CO2 bleibt ja da, das Meer versauert weiter, das ist eine chemische Änderung, die davon unberührt bleibt. Mit solchen Tricks kann man theoretisch Kipppunkte vermeiden, aber sie sind nicht unproblematisch.

Was erwarten Sie als Klimawissenschaftlerin und Alpenvereinsmitglied vom DAV in Sachen Klimawandel, gerade auch in seiner Doppelrolle als Naturschutz- und Bergsportverband?

Ich muss gestehen, dass ich nicht mehr Alpenvereinsmitglied bin. In Hamburg und nun in Edinburgh komme ich einfach zu selten in die bayerischen Berge und auf die Hütten. Aber ich war lang und gern Mitglied, wir haben viele schöne Bergtouren gemacht. Ich erinnere mich gut ans Zuckerhütl und an den irrsinnig steilen Spitz mit der schönen Flanke, gleich neben dem Ortler …

… die Königsspitze?

Genau! Die Königsspitze, das war schönster Skiberg. Jedenfalls, zum DAV: Für mich ist das Wichtigste, dass man die Bergnatur erhält, damit man sieht, wie beeindruckend sie ist. Und ich glaube, dass die meisten Bergsportler willens wären, dafür auch Einsparungen mitzumachen, etwa mit öffentlichen Verkehrsmitteln, emissionsarmen Fahrzeugen oder Fahrgemeinschaften in die Berge zu kommen. Es wäre gut, wenn der DAV die Leute dabei unterstützen würde, Entscheidungen zu treffen, die die Emissionen runterbringen. Aber wenn die Leute die Natur nicht sehen, dann können sie sie auch nicht schätzen. Die Wahrnehmung für das, was man verliert, ist sehr wichtig, sonst gibt es keinen Willen, es zu schützen. Von daher sollen die Leute ruhig weiter in die Berge gehen, auch fürs seelische Wohlbefinden in schweren Zeiten, in denen man auch mal Angst um die Zukunft bekommen kann.

 

Zum Nachlesen

Die 42-seitige „Zusammenfassung für die politische Entscheidungsfindung“ des 6. IPCC-Sachstandsberichts (2021–2022) kann man sich hier kostenlos herunterladen.

Eisbohrkerne, wie hier im Frühjahr 2022 im Kaunertal, geben Aufschluss über den Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre.

Gabriele Hegerl wurde 1962 in München geboren. 1992 promovierte sie in angewandter Mathematik an der LMU München über numerische Strömungsmechanik und arbeitete anschließend am Max-Planck-Institut für Meteorologie bei Klaus Hasselmann, der 2021 den Physik-Nobelpreis erhielt. Seit 2000/01 ist Hegerl am Erstellen der IPCC-Berichte beteiligt. Seit 2009 hat sie an der Universität Edinburgh den Lehrstuhl für Klimasystemwissenschaften inne.