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Die Alpin-Autorin Christine Kopp im Gespräch

"Und doch - die Leidenschaft ist da"

Vor 20 Jahren starb der Schweizer Bergführer Ueli Kopp in einer Lawine. Im Interview spricht seine Schwester, die Alpin-Autorin Christine Kopp, über die Verarbeitung des Unglücks und seine Wirkung auf ihre eigene Faszination am Skitourengehen.

Interview: Franziska Horn, alpinwelt 4/2022

 

Es war eine knappe Meldung, die am 13. Februar 2002 online in der „Jungfrauzeitung“ erschien: „Am Schilthorn starb am Mittwochmorgen ein 40-jähriger Variantenskifahrer. Unterhalb der Mittelstation Birg hatte er im steilen Osthang ein Schneebrett ausgelöst, das ihn rund 600 Meter in die Tiefe riss.“

Der Variantenfahrer war der Schweizer Bergführer Ueli Kopp, dein älterer Bruder, geboren 1962. Wie hast du von seinem Unfall erfahren?

Christine Kopp: Ich wohnte in Interlaken und war mit dem ältesten Sohn von Ueli, damals zehn, für ein gemeinsames Skifahren verabredet. Uelis Familie machte in unserer Wohnung in Mürren Ferien. Es war ein Mittwoch. Vor 10 Uhr, kurz bevor ich abfahren wollte, rief mich meine Mutter an. Schon wie sie meinen Kosenamen „Tini …“ mit einer langen Pause und schwerer Stimme aussprach, wusste ich, dass etwas Furchtbares passiert sein musste. Danach funktionierte ich nur noch: Ich eilte hinaus, in Trance, Auto, Seilbahn nach Mürren, zu Fuß zur Wohnung, an der Türe klingeln … Die Tochter von Ueli öffnete, sie war vier, und ich trat ein in ein Meer von Schmerz.

Wie ging es dir danach?

Mir half, dass ich wenige Tage danach mit den Tourenskiern zum Ort aufstieg, wo er ausgegraben worden war, alles genau anschaute, das Loch, die Blutstropfen, und meine Rituale des Abschieds machte. Ich musste den Schnee anfassen, wo Ueli zum Liegen gekommen war, um das Geschehen greifbarer zu machen. Hoch über mir standen noch Uelis perfekte Kurven im Hang, wie gemalt, bis zum riesigen Abbruch des Schneebretts.


Ueli Kopp auf Skitour, 1991: „Am Anfang stand der Tod wie ein schwarzer Schatten in mir.“
Ueli Kopp auf Skitour, 1991: „Am Anfang stand der Tod wie ein schwarzer Schatten in mir.“

Und in der folgenden Zeit?

Das Absurde war, dass ich in jener Woche von Freitag bis Sonntag einen Lawinenkurs gebucht hatte bei Bergpunkt, einer Alpinschule aus Bern, für deren Programm ich als Texterin arbeite. Als am Mittwoch das Unglück passierte, telefonierte ich als Erstes mit Emanuel Wassermann, einem der Gründer von Bergpunkt, mit dem ich befreundet bin, und wollte den Lawinenkurs und das Texten absagen. Emanuel machte mir ein Angebot: „Versuch, die Arbeit für uns zu erledigen, und am Samstag gehe ich mit dir auf eine weniger steile Tour in gleicher Exposition, und wir schauen alles an.“ Das haben wir dann gemacht, nur drei Tage nach Uelis Tod: zuerst zwei Stunden bei Kaffee reden, Lawinenbulletin analysieren (das für den Mittwoch nachträglich für das Schilthorn von 2 auf 3 korrigiert worden war), Karten studieren … dann die Tour, inklusive Schneeprofil. Und schließlich ungeheuer guter Schnee in den ersten Schwüngen. Da wurde mir bewusst – dieses Glücksgefühl hatte Ueli in den letzten Momenten vor dem Abgang der Lawine. Das hat mir extrem geholfen, um selber weiter in die Berge zu gehen und ihn ziehen zu lassen.

Wie sind eure Eltern, selbst Bergsteiger, mit dem Unglück umgegangen?

Mein Vater reagierte mit großer, lang anhaltender Wut. Leider hatte er Ueli wenige Tage vor dem Tod gebeten, er solle diese Variante, die damals nur von Gebietskennern befahren wurde, nicht mehr machen. Mein Vater war damals Präsident der Schilthornbahn und wollte nicht, dass Ueli genau unter der Bahn seine steilen Kurven zog, die jedermann sehen würde – von wegen Nachahmungseffekt. Meine Mutter, eine sehr starke Frau, machte viel mit sich selber aus. Sie konnte das Schicksal als Teil des Lebens besser akzeptieren als mein Vater.

Ueli war verheiratet, hatte vier Kinder, das jüngste damals vier Jahre alt. Wie ging seine Familie damit um?

Ich kann nicht für sie sprechen. Natürlich brach für meine Schwägerin Anna Barbara die Welt zusammen – Ueli und sie hatten ein Weinbauunternehmen gegründet und standen kurz vor dem Bau von Keller und Haus. Sie muss vor einem schier unüberwindbaren Berg gestanden haben. Allerdings habe ich in den vergangenen Jahren gelernt, dass jeder anders mit dem Schmerz umgeht – das gilt auch für Uelis Kinder, damals vier, sechs, acht und zehn Jahre alt, die den Tod sicher in jenem Moment und im Laufe der Jahre unterschiedlich erlebten und verarbeiteten.

Wie deutest du jene typischen Reaktionen, die häufig nach Lawinen- oder Bergunfällen zu hören sind, im Sinne von „… sind ja selber schuld, haben es herausgefordert!“?

Kürzlich ist mir in meiner „Ueli-Schublade“ der Stapel von Briefen und Mails, den ich damals erhielt, in die Hände gekommen. Irgendwann werde ich sie wieder lesen. Negative Reaktionen, wie angetönt, hatte ich nicht. Manchmal schien mir eher, ich müsste andere trösten. Auffallend war: Ein paar „große“ Bergsteiger in meinem Freundeskreis reagierten nicht – sie waren verstummt, wohl ein Unvermögen zu reagieren, das ich mit dem Exorzieren der eigenen Ängste interpretierte.


"Und gegenüber jener Ort, der dem Bruder zum Verhängnis wurde. Lange haben wir versucht, den Hang auszuklammern, aber der suchende Blick geht doch dorthin, unvermeidlich. Was empfand er bei seinem letzten wundervollen Schwung, bevor die Lawine losbrach? Lebensfreude, Glück, Stärke? Was in jenen Sekunden, in denen ihn die Schneemassen über den Hang fegten und über Felsstufen hinunterschmetterten? Erstaunen, Erkenntnis, Abschied, Trauer?"

– Christine Kopp in der Kurzgeschichte „Herbstmelancholie“ aus ihrem Buch „Schlüsselstellen“, 2009


Du gehörst selbst seit 2012 dem Verwaltungsrat der Schilthornbahn AG an und bist also stets aufs Neue mit seinem Unfallort konfrontiert …

Inzwischen bin ich Ueli einfach besonders nahe, wenn ich an den Hang schaue. Der Schmerz ist aber in Mürren für mich nicht größer als anderswo. Aber: Rund um das Schilthorn waren Skitouren und Varianten für mich lange ein Tabu und sind noch heute sehr schwierig.

Und wie denkst du nach der langen vergangenen Zeit über seinen Lawinenunfall?

Er ist Teil meines Lebens. Seine Gegenwart ist manchmal stärker, manchmal schwächer. In diesem Jahr war er besonders präsent, weil 20 Jahre seit dem Tod vergangen sind – das traurige „Jubiläum“ löste mehr Gedanken als in anderen Jahren aus und eine neue Welle des Schmerzes. Ueli fehlt mir, und dieses Gefühl war in den letzten Monaten stark – eine Art Ungläubigkeit, 20 Jahre nach seinem Tod, dass er nicht mehr da ist! Am Anfang stand der Tod wie ein schwarzer Schatten in mir, und die Trauer überkam mich immer wieder, oft in sehr unpassenden Momenten mitten unter anderen Menschen. Wichtig war für mich, dass ich Ueli, als ich ihn zum letzten Mal aufgebahrt sah, sehr bewusst für ungelöste Dinge zwischen uns vergeben konnte und damit einiges abschließen konnte.

Welchen Charakter, welche Persönlichkeit hatte dein Bruder Ueli? Woher kam seine Motivation,Bergführer zu werden, seine Faszination für Schnee und Berge?

Er und ich, wir nannten uns das „Duo infernale“, das teuflische Duo, weil wir gemeinsam wirklich stark und für Abenteuer aller Art gut waren. Ueli war ein Charaktermensch, charismatisch, vielfältig, hell und dunkel; Bergführer zu werden, war sein Traum, auch wenn er den Beruf aus Zeitgründen nur begrenzt ausübte. Er war ein brillanter Skifahrer (er fuhr auch mit den Langlaufski auf der schwarzen Piste vom Schilthorn ab, war jahrelang in der Militärtriathlon-Nationalmannschaft) und körperlich und mental ungemein stark. Damit zog er mich, die kleine Schwester, wild und lustig durch die Berge. Ich habe unzählige gemeinsame Erinnerungen, und darüber bin ich sehr froh, auch wenn sie hie und da den Schmerz stärker machen. Aber sie erhöhen auch die Möglichkeiten, zu lächeln und zu lachen über gemeinsam erlebte Episoden!


"Wir wurden bereits im zarten Nachwindel-Alter auf die ,blöden Latten' gestellt, da wurde nicht lange herumgefackelt. Wir wussten gar nicht wirklich, wie uns geschah. Kurz darauf die ersten Stemmschwünge, lange bevor wir das Wort fehlerfrei
aussprechen konnten"

– Christine Kopp in der Geschichte „Skifahren und Muttermilch“ aus „Schlüsselstellen“, 2009


Du gehörst selbst seit 2012 dem Verwaltungsrat der Schilthornbahn AG an und bist also stets aufs Neue mit seinem Unfallort konfrontiert …

Inzwischen bin ich Ueli einfach besonders nahe, wenn ich an den Hang schaue. Der Schmerz ist aber in Mürren für mich nicht größer als anderswo. Aber: Rund um das Schilthorn waren Skitouren und Varianten für mich lange ein Tabu und sind noch heute sehr schwierig.

Und wie denkst du nach der langen vergangenen Zeit über seinen Lawinenunfall?

Er ist Teil meines Lebens. Seine Gegenwart ist manchmal stärker, manchmal schwächer. In diesem Jahr war er besonders präsent, weil 20 Jahre seit dem Tod vergangen sind – das traurige „Jubiläum“ löste mehr Gedanken als in anderen Jahren aus und eine neue Welle des Schmerzes. Ueli fehlt mir, und dieses Gefühl war in den letzten Monaten stark – eine Art Ungläubigkeit, 20 Jahre nach seinem Tod, dass er nicht mehr da ist! Am Anfang stand der Tod wie ein schwarzer Schatten in mir, und die Trauer überkam mich immer wieder, oft in sehr unpassenden Momenten mitten unter anderen Menschen. Wichtig war für mich, dass ich Ueli, als ich ihn zum letzten Mal aufgebahrt sah, sehr bewusst für ungelöste Dinge zwischen uns vergeben konnte und damit einiges abschließen konnte.

Welchen Charakter, welche Persönlichkeit hatte dein Bruder Ueli? Woher kam seine Motivation,Bergführer zu werden, seine Faszination für Schnee und Berge?

Er und ich, wir nannten uns das „Duo infernale“, das teuflische Duo, weil wir gemeinsam wirklich stark und für Abenteuer aller Art gut waren. Ueli war ein Charaktermensch, charismatisch, vielfältig, hell und dunkel; Bergführer zu werden, war sein Traum, auch wenn er den Beruf aus Zeitgründen nur begrenzt ausübte. Er war ein brillanter Skifahrer (er fuhr auch mit den Langlaufski auf der schwarzen Piste vom Schilthorn ab, war jahrelang in der Militärtriathlon-Nationalmannschaft) und körperlich und mental ungemein stark. Damit zog er mich, die kleine Schwester, wild und lustig durch die Berge. Ich habe unzählige gemeinsame Erinnerungen, und darüber bin ich sehr froh, auch wenn sie hie und da den Schmerz stärker machen. Aber sie erhöhen auch die Möglichkeiten, zu lächeln und zu lachen über gemeinsam erlebte Episoden!

 


„Was empfand er bei seinem letzten wundervollen Schwung?“ Ueli Kopp 1993 in der winterlichen Matterhorn- Nordwand
„Was empfand er bei seinem letzten wundervollen Schwung?“ Ueli Kopp 1993 in der winterlichen Matterhorn- Nordwand

Anfang Februar 2021 kam es zu besonders zahlreichen Lawinenunfällen, beinahe alpenweit. Wie wirkt es auf dich, immer wieder solche Meldungen zu hören?

Sie sind Teil des Risikos. Aber wenn Freunde betroffen sind, wie leider in diesen 20 Jahren öfter der Fall, dann leide ich – mehr oder weniger stark, je nach unserer Beziehung und der Art des Unfalls.

Hast du wegen seines Unfalls Therapie oder Traumaarbeit gemacht?

Meine Therapie war mein Bedürfnis, zu reden. Ich habe oft damit geschockt, wenn ich in aller Direktheit vom Tod von Ueli redete, mit Leuten, die damit weniger gut umgehen konnten als ich selbst. Ueli starb zudem bei dem, was er liebte! Therapie waren natürlich immer auch die Berge und die Natur: Für mich ist das Gehen Meditation, bei dem ich die schwersten Gedanken loswerde und Ueli nahe bin.

Wie bist du zum Skitourengehen gekommen?

Schon mein Vater war ein exzellenter „klassischer“ Bergsteiger und Skifahrer, und meine Mutter ging mit. Er brachte uns zu den Bergen, und oft in diesen 20 Jahren, wenn er den Tod von Ueli beklagte, sagte ich ihm, er hätte uns mit den Bergen tiefstes Erleben und Glück geschenkt.

Der Forscher, Bergführer und „Lawinenpapst“ Werner Munter prägte den Satz: „Vorsicht! Die Lawine weiß nicht, dass du Experte bist.“ Wie denkst du heute über das Risiko?

Skitouren sind meine größte Leidenschaft geblieben; ich musste mich allerdings in meinem Inneren bewusst dafür entscheiden, weil ich erkannte, dass sie für mich – trotz aller Gefahren und Ängste – die stärksten Glücksgefühle auslösen können. Jahre nach dem Unglück holte ich dann endlich nach, was ich in der Woche des Tods von Ueli machen wollte: einen dreitägigen Lawinenkurs. Vielleicht war er eine Art Traumaarbeit: Es war sehr schwierig, und ich brach mehrmals in Tränen aus. Zum Glück kannte der Bergführer Bruno Hasler, Ausbildungschef beim SAC, mich und meine Vorgeschichte. Vor ein paar Jahren ist auch mein italienischer Lebenspartner Eugenio Galbani Bergführer geworden. Sicher tat er sich manchmal mit meinen Ängsten schwer, so wie ich selbst auch. Heute versuche ich vermehrt, abgesehen von Theorie und Lawinenkunde, im Bauch zu fühlen, ob alles stimmt, und – dankbar zu sein.

Wie hat der Unglücksfall dein Denken über Berge allgemein beeinflusst?

Jahrelang beherrschte mich Angst bei Bergtouren, allerdings nicht Angst um mich, sondern um meine Eltern – nach dem Motto „mir darf nichts passieren, sonst versinken meine Eltern im Schmerz, insbesondere mein Vater!“ Gerade weil mein Vater immer wieder wiederholte, ich solle aufpassen. Das war für mich sehr schwierig und löste sich erst vor ein paar Jahren etwas auf, als ich ihm ausdrücklich sagte, er verstärke damit meine Ängste und mache mich unfrei. Sehr schwierig waren spätere Unfälle von Freunden, insbesondere jener meines besten Schweizer Freundes, der nach einem Unfall im Klettergarten gelähmt ist. Auch weitere Todesfälle, wie jener von Erhard Loretan, den ich sehr gerne mochte und dessen Bücher ich übersetzt hatte. Dazu eigene Unfälle und Probleme mit Knie und Füßen, die zunehmend alles harzig machen, und doch – die Leidenschaft ist da, und ich weiß sehr wohl, wie viel sie mir gegeben hat und gibt. Zudem waren bei mir ja die Berge auch in der Arbeit zentral. Aber ich arbeite an einer lockereren Beziehung zu ihnen, weniger leistungsorientiert, versuche, allmählich etwas loszulassen – siehe oben: in die Natur eingehen und dankbar sein für alles Erlebte!


zur Person

Christine Kopp wird 1967 in Bern geboren. Wie ihre älteren Brüder, Peter und Ueli, ist sie seit Kindesbeinen auf Ski- und Klettertouren unterwegs, schon die Eltern waren begeisterte Bergsteiger. Später bearbeitet sie die Berge auch professionell, als Autorin und Redakteurin mit Spezialgebiet Alpinismus, u. a. für die Neue Zürcher Zeitung. 2009 ist ihr persönlich geprägter Kurzgeschichten- Band „Schlüsselstellen“ erschienen – tiefsinnig, mit Liebe zum Tun und doch das Treiben am Berg hinterfragend. 2012 veröffentlichte sie den Kurzgeschichten-Band „Betsy Berg“. Seit einigen Jahren lebt sie im kleinen italienischen Dorf Pasturo in der Nähe des Grigna-Massivs über dem Comersee.