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Thema: "Zeit am Berg"

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Was ist Zeit?

Einst Wohnort und Wirtschaftsbetrieb, heute nur noch ein Häuflein morsches Holz: die Rotwandalm im Hagengebirge

 

von Christian Rauch

 

Über die Frage nach dem Wesen der Zeit zerbrechen sich die Menschen seit Jahrtausenden den Kopf. Mittlerweile beherrscht die messbare Zeit unseren Alltag. Aber es gibt auch die subjektive Zeit, die Naturzeit und überraschende Zeitdefinitionen aus der Physik.

 

Die Geschichte der exakten Zeitmessung beginnt mit den mittelalterlichen Mönchen: Anders als die Bauern auf dem Land, die ihre Tage einfach nach Sonnenaufgang, Mittag und Sonnenuntergang einteilen, braucht man im Klosterleben geregelte Zeiten fürs Gebet. Aufgrund der nächtlichen Gebetszeiten müssen Sonnenuhren sowie Wasser- oder Kerzenuhren kombiniert eingesetzt werden. Eine mechanische Räderuhr, die jederzeit die genaue Zeit anzeigt, wäre da sehr willkommen. Und erste Beispiele solcher Uhren gab es wohl schon früh: Schon anno 996 besitzt der Erzbischof von Reims und spätere Papst Silvester II. laut Überlieferung eine von Gewichten getriebene Räderuhr. Findige Klostermönche entwickeln Geschick, solche frühen Uhrenmodelle, die zum Teil aus dem Orient kommen, nachzubauen. Belegt ist die Uhr mit Rädern spätestens um 1300, als sie Dante in seiner Göttlichen Komödie erwähnt. Bald wird sie in größeren Dimensionen konstruiert und hängt an Kirchtürmen, später auch an Rathäusern. 

 

»Was ist die Zeit? Wenn niemand mich
danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber
einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht.«

# 2/2016

Am Berg kann Zeit
unterschiedlich vergehen
oder sich anfühlen.

 

ganze Ausgabe lesen


Mahnung an die Vergänglichkeit des Lebens: der berühmte "Tod zu Eding" in der Altöttinger Stiftspfarrkirche

Dann bricht auch das Zeitalter der kleinen Uhren an: Um 1500 wird die erste Taschenuhr entwickelt. Längst sind es nicht mehr nur die Klöster, sondern auch Händler und Geschäftsleute, die den Wert der Zeit erkennen. Zeit kann man nun exakt messen, Stunden und Minuten zählen wie Goldstücke, man kann über verstrichene Zeiträume den Zins berechnen. Der Unternehmer, Erfinder und Politiker Benjamin Franklin formuliert 1748 in seinem Buch "Ratschläge für junge Kaufleute" den Spruch "Zeit ist Geld". Und im 19. Jahrhundert beschleunigt sich der Mensch – durch schnellere Verkehrsmittel und dichtere Arbeitsabläufe. Mit der Eisenbahn dauern Reisen nun nicht mehr so lang wie eine mehrtägige Kutschfahrt, man bestimmt genaue Abfahrtsund Ankunftszeiten. Autobauer beginnen, Geschwindigkeit und Beschleunigung relativ zu Stunde und Sekunde zu berechnen, und Unternehmer führen die Stempeluhr ein, als einer der ersten der amerikanische Juwelier Willard LeGrand Bundy 1888.

Im 20. Jahrhundert ermöglicht die Quarzuhr eine noch exaktere Zeitmessung, die Anzeige kann nun auch digital mit Ziffern erfolgen. Und die Informationstechnik beschleunigt weiter: Auch wenn der Mensch keine Sekundenbruchteile für seinen Alltag benötigt – Computer, auch solche, die mittlerweile in Millisekunden Aktien an Börsen handeln, erledigen nahezu alles rasend schnell. Ohne diese Rechner würden viele Abläufe in einer komplexen Welt nicht mehr funktionieren. Und selbst in der Freizeit messen wir Trainingszeiten und lassen uns nach einfachen Gesetzen der Physik die sportlich erbrachte Energie in Kalorien ausrechnen.

 

»Wachstum erreichen wir durch Beschleunigung
und, wo es nicht schneller geht,
durch Verdichtung.«

 

Kapital, Güter und Wohlstand hängen heute also ganz und gar von einer präzise gemessenen und effizient genutzten Zeit ab. "Wachstum erreichen wir durch Beschleunigung und, wo es nicht schneller geht, durch Verdichtung", erklärt der Münchner Wirtschaftspädagoge Karlheinz Geißler, der seit 30 Jahren als Zeitforscher und Berater tätig ist. "Wir benutzen Computer und technische Geräte, mit denen wir mehrere Dinge gleichzeitig machen können, und mit Laptop und Smartphone können wir die Arbeit mittlerweile nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich verdichten." Und der Trend setzt sich wohl fort: Sollten sich in einigen Jahren selbstfahrende Autos durchsetzen, wird man Arbeit auch beim Pendeln erledigen können. Die Menschheit hat also die Zeit in den letzten 200 Jahren immer fester in die Hand genommen. Seither widmen wir uns auch viel stärker der systematischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit der Zukunft. Ersteres, also "Geschichte", wird wissenschaftlich erst seit dem 19. Jahrhundert betrieben; der "Historismus" verlangte, aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen. Was den Blick in die Zukunft angeht, entstand ebenfalls im vorletzten Jahrhundert die sogenannte Science Fiction, unter anderem durch Jules Verne. Heute betreiben wir Zukunftsforschung, sind "innovativ" und versuchen, Prinzipien der Nachhaltigkeit umzusetzen. Wer nachhaltig lebt, das wissen Forstwirte schon lang, lebt in der Gegenwart so, dass zukünftigen Generationen keine Möglichkeiten genommen werden – eine Vision, die allen Menschen im Fluss der Zeit ihre Chancen erhalten soll. 

Physiker und die Zeit

Was die Zeit ist und wie sie verläuft, beschäftigt besonders die Physiker. In der Schule lernt man den Zeitpfeil der Thermodynamik (Wärmelehre). Er besagt, dass die Entropie ("Unordnung") in die Zukunft gerichtet immer zunimmt. Einfach veranschaulichen lässt sich dies durch eine Tasse, die herunterfällt und zerbricht. Sie geht dabei in einen "ungeordneteren" Zustand über. Die Bruchstücke können aber nicht allein wieder zu einer Tasse und damit zu einem geordneten System werden. Auch die Mechanik kennt seit Jahrhunderten einen klaren, gleichmäßigen Fluss der Zeit, etwa wenn ein Motor Räder in Bewegung setzt. Im 20. Jahrhundert revolutionierte Albert Einsteins Relativitätstheorie den Zeitbegriff, denn sie verwebt Zeit und Raum zur sogenannten Raumzeit. Die Spezielle Relativitätstheorie folgert daraus, dass die Zeit bei schneller Bewegung langsamer verläuft. Spürbar wird das aber nur bei sehr hohen Geschwindigkeiten in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit (rund 300.000 Kilometer pro Sekunde). Die Allgemeine Relativitätstheorie besagt, dass die Zeit in der Nähe sehr großer Schwerkraftfelder (wie von Sternen oder gar Schwarzen Löchern) langsamer verläuft. Steht man beispielsweise auf einem hohen Berggipfel, so ist man vom Gravitationszentrum der Erde weiter entfernt als an der Oberfläche, und die Uhr läuft schneller, allerdings nur um etwa eine Billionstel Sekunde! Moderne Atomuhren können aber solche Zeitunterschiede messen. In GPS-Satelliten, bei denen die Zeit bedingt durch die hohe Geschwindigkeit der Satelliten und den größeren Abstand von der Erde fast eine Milliardstel Sekunde schneller verläuft, muss dieser Unterschied ausgeglichen werden, damit die GPS-Messung auf wenige Meter genau funktioniert.


In seinem Bild "Die Beständigkeit der Erinnerung" von 1931 thematisiert der Künstler Salvador Dalí das Fließen und Vergehen von Zeit.

"Was aber die Zeit wirklich ist, wissen wir nicht. Wir haben wegen des Fehlens eines Zeitsinns keinen direkten Zugang zu ihr“, erklärt Karlheinz Geißler. „Deshalb machen wir uns ein Bild von der Zeit und messen sie mit Werkzeugen." Dieses Modell einer genau messbaren Zeit aber gab es vor den mittelalterlichen Mönchen nur sehr eingeschränkt. Wichtig für den Alltag waren die von der Sonne bestimmten Tages- und Jahreszeiten, das "Tagwerk" eines Bauern als Flächenmaß und Naturphänomene wie die Schattenlänge oder Dämmerung. Zwar baute man schon früh Wasser- und Sonnenuhren und erkannte den regelmäßigen Gang von Sonne und Mond. Auf dieser Basis entstanden erste Kalender, die allerdings den Alltag nicht wie heute organisierten. Bei den Römern waren sie vor allem wegen religiöser Feier- und Festtage nötig. "Und die Zukunft war für die Menschen kein Gestaltungsspielraum, sondern göttliches Schicksal", ergänzt Geißler.

Auch die frühen Philosophen sahen in der Zeit nichts, was der Mensch selbst nutzen oder gestalten könnte. Für den Griechen Heraklit um 500 vor Christus (berühmt durch sein Zitat "Alles fließt") floss die Zeit auf ewig dahin; Leben und Tod, Werden und Vergehen wechselten sich ständig ab. Die Zeit ist laut Heraklit wie ein Kind, das Spielfiguren hin- und herbewegt. Rund 150 Jahre später formulierte Aristoteles, dass die Zeit "die Zahl der Bewegung hinsichtlich des 'davor' und 'danach'" sei. Und der römische Denker Augustinus fragte um 400 nach Christus: "Was ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht." Trotz dieses berühmten Ausspruchs lieferte der Philosoph einige plausible Deutungen, so von Vergangenheit und Zukunft als der Erinnerung bzw. der Erwartung aus der Gegenwart heraus. Für ihn gab es erstmals einen "subjektiven Zeitbegriff" oder die "erfahrene" bzw. "erlebte" Zeit. Das ist auch heute jedem eingängig, dem eine Stunde Wartezeit "wie eine Ewigkeit" vorkommt, oder dem im lebhaften einstündigen Zwiegespräch die Zeit "wie im Nu verrinnt" – obgleich keine Uhr dieser Welt einen Unterschied bei der linear ablaufenden Stunde erkennen würde.

 


Eine der seltenen plastischen Darstellungen der Zeit: die Skulptur "Le Temps" von Charles van der Stappen. Die von einer geflügelten, betagten Gestalt verkörperte Zeit weist der Jugend den Weg.

In der Neuzeit, als die messbare und effizient genutzte Zeit nach der Entwicklung der Räderuhren und mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt immer beherrschender wurde, waren es weiterhin Philosophen, die den Begriff der subjektiven Zeit aufrechterhielten. Im 19. Jahrhundert schrieb Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: "Es gibt keine äußere, allgemeine Zeit; alle Zeit ist subjektiv, das heißt eine innere, die jedes Ding in sich selbst hat, nicht außer sich." Der französische Philosoph Henri Bergson unterschied die äußere Zeit, die man zahlenmäßig und immer gleich wie eine "Strecke" messen kann, von der inneren Zeit, in der wir Augenblicke stets neu erleben. Und Martin Heidegger setzte die Zeit gar mit dem Sinn von "Sein" gleich.

 

»Man hat keine Zeit, man ist die Zeit.
Man kann sie nicht managen oder
verlieren oder totschlagen.«
 

Für den Berater Karlheinz Geißler gilt: "Man hat keine Zeit, man ist die Zeit. Man kann sie nicht managen oder verlieren oder totschlagen. Man kann sie nur leben und muss sie leben!" Der Zeitforscher empfiehlt, die Zeit im Einklang mit den natürlichen Zyklen von Körper und Geist zu leben. Recht gibt ihm die Chronobiologie, eine noch recht junge Forschungsrichtung, die untersucht, wie sich biologische Systeme zeitlich organisieren. So kommt es der "inneren Uhr" nicht auf Beschleunigung an, sondern auf Rhythmik. Beim Menschen sind dies zum Beispiel der Schlaf-Wach-Rhythmus und hormonelle Zyklen über kürzere Zeiträume, während sich manche Tiere wie Zugvögel oder Winterschläfer an lang andauernden Rhythmen orientieren. Doch auch Menschen spüren zuweilen jahreszeitabhängig "Frühlingsgefühle" oder "Winterdepressionen". "Wer nach rhythmischer Zeit lebt, stößt aber auch an Grenzen", weiß Geißler. "Wenn diese dauerhaft verletzt werden, führt dies zu Zeitproblemen, die wir ökologische, soziale oder gesundheitliche Probleme nennen." Wer sich also ständig gegen die eigenen biologischen Kreisläufe abhetzt, indem er die halbe Nacht vor dem Rechner sitzt, während des Essens auf das Handy guckt und sich kaum eine Auszeit gönnt, ist schnell der Erschöpfung oder gar dem Burnout nahe, einem Zustand, in dem man die Zeit gar nicht mehr so "nutzen" kann, wie man es eigentlich will. Ein Vorbild für rhythmisches Leben ist im Unterschied dazu wohl die nachmittägliche Siesta in Spanien.

Karlheinz Geißler, der jahrzehntelang Unternehmen beraten hat, ist der Ansicht, dass die heutige Wirtschaft Zeit- und Stressprobleme nicht mit mehr "Zeitmanagement" in den Griff bekommen wird: "Denn dadurch soll das Übel ja mit der Methode bekämpft werden, die das Übel erzeugt hat." Zugleich weiß er, dass strukturierte Abläufe, Termine und Projekte weiter innerhalb der heute üblichen "messbaren Zeit" organisiert werden müssen, wenn man im Wettbewerb bestehen will.

Allerdings wird es durch die heute üblichen Arbeitszeitmodelle möglich, die Biorhythmik der Mitarbeiter (zum Beispiel ein kurzer Mittagsschlaf), ihre sozialen Rhythmen wie Kindergarten- und Schulzeiten und die persönlichen Wünsche mit den linearen Arbeitsabläufen in Balance zu bringen. Wenn Karlheinz Geißler und sein Sohn, der die Beratungsfirma nun führt, mit Unternehmen arbeiten, versuchen sie zu erreichen, dass die Arbeitsabläufe rhythmisch organisiert werden, wo immer es möglich ist.

Tourentipps zum Thema


Unter dem Motto "Zeit" gibt es viele Möglichkeiten, in den Bergen unterwegs zu sein – in sechs Tagen ein Gebirge durchqueren, an nur einem Tag eine große Gipfelrunde absolvieren, den Spuren der Gletscher nachwandern, ohne konkretes Ziel durch Wälder streifen oder mit der Pulsuhr den Kreislauf testen ...

zu den Tourentipps


An der "Sextner Sonnenuhr", einer halbkreisförmig angeordneten Reihe von Bergen südlich von Sexten, lässt sich mithilfe des Sonnenstands die Uhrzeit ablesen. Hier der mittig stehende Zwölferkofel.

Der Bergsteiger kann allen Zeitbegriffen besonders gut nachspüren. Natürlich kann auch er die Zeit als linear begreifen, sie messen und verwalten, wenn er möchte. Er kann heute mit dem GPS-Gerät seine Wegstrecke, seinen "Zeitaufwand" und die Geschwindigkeit präzise erfassen. Er kann "gegen die Uhr" eine Bestzeit aufstellen wollen. "Doch wofür braucht ein Bergsteiger eigentlich eine Uhr?", fragt Karlheinz Geißler. "Sofern er keinen Rekord brechen will und den Tag ganz der Wanderung widmet, ohne Anschlusstermin, reicht ihm der Sonnenstand als zeitliche Orientierung." Nicht umsonst entstanden Bergnamen häufig durch ihre Position bezüglich der Mittagssonne vom Tal aus gesehen: so zum Beispiel der Elfer, der Zwölfer und zahlreiche weitere Gipfel, die mit diesen Stundenzahlen oder mit "Mittags-" beginnen. Wer sich bei einer Bergtour nicht an der linearen Zeit orientiert, wird unweigerlich die subjektive Zeit spüren. Und konzentriert er sich auf die Natur um ihn, wird er die vom Menschen völlig unabhängige Naturzeit erkennen, zum Beispiel den "Tagesgang". Und ein Gefühl dafür kann ihn auch vor Gefahren schützen: Wenn die vormittags steigende Sonne die Hänge erwärmt, steigt im Spätwinter und Frühjahr die Lawinengefahr. Im Sommer bilden sich an vielen schönen Tagen Quellwolken, die Gewittergefahr steigt am Nachmittag und verschwindet abends und in der Nacht meist wieder. Eine ähnliche Rhythmik gibt es auch über das Jahr, wenn etwa im November erst die Hochgebirge, dann die immer tiefer liegenden Regionen einschneien und sich ab dem Frühjahr das Spiel ins Gegenteil verkehrt. So stellt der traditionelle Alpinist gegen Ende des Jahres denn auch die Tourenski oder Schneeschuhe bereit, im Frühjahr lässt er das Wanderfieber anhand der ersten südseitigen "Eingehtouren" erwachen, ab dem Juni öffnen sich für ihn Felstouren und Klettersteige im Hochgebirge.

 

»Wofür braucht ein Bergsteiger
eigentlich eine Uhr?«

 

Wenn manch moderner Mensch allerdings entgegen diesem Rhythmus im Sommer auf einem Gletscher Ski fährt, beweist das, wie wir uns aufgrund von Fortschritt und Wohlstand – möglich gemacht durch die lineare Zeitmessung – aus den Zyklen der Naturzeit auch ausklinken können, wenn wir wollen. Und wenn wir umgekehrt als Reaktion auf klimatische Veränderungen in einem milden Dezember Schneekanonen einsetzen, zwingen wir die Naturzeit, die durch den (auch menschengemachten) Klimawandel ein wenig aus dem Tritt geraten ist, wieder so zu sein, wie sie unserer Ansicht nach kurz vor Weihnachten sein sollte.

Doch auch die Natur bringt zuweilen überraschende und unvorhersehbare Ereignisse: Vulkanausbrüche, Lawinen, Steinschläge – oder sind auch sie Geschehnisse, die wiederkehrend in größeren Zyklen ablaufen? Der Bergsee "Blaue Gumpe" im Wettersteingebirge, jahrhundertelang Motiv für Zeichner und Fotografen, verschwand im August 2005 urplötzlich. Tagelanger Starkregen hatte den natürlichen Damm am Abfluss zerstört. Eine einmalige Laune der Natur? Nein, denn die Blaue Gumpe war vor etwa 500 Jahren durch einen mächtigen Bergsturz erst entstanden.

Der Berg im Fluss der Zeit

Viele Millionen Jahre hat es gedauert, bis die Alpen entstanden. Vor etwa 55 Millionen Jahren begannen die europäische und die afrikanische Kontinentalplatte, gegeneinanderzudrücken und die Gebirgszüge ganz langsam aufzufalten.

Seit 2,5 Millionen Jahren wurden die Alpen durch die sich aufbauenden und wieder abschmelzenden Gletscherströme der Eiszeiten in ihrer Gestalt verändert, z. B. abgeschliffen – das ging über Zeiträume von einigen Hunderttausend Jahren und findet in kleinerem Maßstab in vergletscherten Gebieten noch heute statt.

Die Erosion durch Wind und Niederschlag verändert die Alpen. Innerhalb eines Jahrhunderts kann beispielsweise eine Bergspitze um zehn Zentimeter abgetragen werden. Doch weil dadurch die Berge 'an Masse verlieren' werden, heben sie sich von unten, sodass sich Hebung und Erosion etwa die Waage halten.

Innerhalb von Jahrzehnten und Jahren ändert der Mensch das Gesicht vieler Alpenberge, beispielsweise durch den Bau von Lift- und Pistentrassen, Forststraßen und Gebäuden.

Allerdings kann ein einziger Bergsturz schon innerhalb von Sekunden einen Berg wesentlich verändern. Vor etwa 3500 Jahren brachen aus der Nordwand der Zugspitze mit einem Schlag viele Millionen Kubikmeter Gestein heraus – dies formte den bereits zuvor existierenden Eibsee in seiner heutigen Gestalt.


Christian Rauch ist freier Autor und Journalist, u. a. in den Bereichen Landleben und Bergsport. Von ihm erschienen das Buch "Bergerlebnisse – Gedanken zu Natur und Philosophie" und mehrere Kulturwanderbücher (Rother-Verlag).