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Klassische Hochtouren und Firngrate werden in Zeiten schmelzender Gletscher immer mehr zum Tanz auf Messers Schneide. Der Kuffnergrat im Montblanc-Massiv bietet so einen beeindruckenden Balanceakt – doch die Zeit rennt.
Text: Marlies Czerny, Fotos: Andreas Lattner
→Gutes Timing: Ein Hauch von Firn und eine prächtige Dosis Montblanc-Panorama warten – zur rechten Zeit – am Ausstieg vom Kuffnergrat.
Verflucht nochmal, jetzt möchte mein liebster Seilpartner wirklich auf diesen Berg. Diesen Berg, der das Fluchen sogar in seinem französischen Namen trägt. Die Rede ist vom Mont Maudit, dem „verdammten Berg“. Geerbt hat er ihn von seinem großen Bruder: In alten Landkarten ist über dem höchsten Berg der Alpen noch „Montagne Maudit“ zu lesen, ehe im Jahr 1786 mit der Erstbesteigung des Montblanc erwiesen wurde, dass der größte Eisklotz im Alpenraum ja gar nicht so verdammt sein kann. Seither hat der Montblanc eine weiße Weste und das „Verfluchte“ auf seinen kleinen Trabanten abgestreift – der mit 4465 Metern ja gar nicht so klein ist, verflucht nochmal.
Einhundert Jahre nach der Erstbesteigung des Montblanc, 1887, reiste ein wohlhabender Österreicher aus Wien mit seinen zwei Schweizer Bergführern, Alexander Burgener und Joseph Furrer, ins Montblanc-Gebiet. Es waren mittlerweile weit mehr große Gipfel erobert und der Alpinismus wurde allgemein nicht mehr nur als verrückt, sondern auch als chic angesehen.
Moritz von Kuffner, der besagte Wiener, studierte Chemie, veranstaltete noble Soiréen und hatte ein Faible für Philosophie, Kunst und hohe Berge. Gemeinsam suchte die Seilschaft den Mont Maudit von einer neuen Seite auf, und kletterte vom Col de la Fourche erstmals über einen mehr oder weniger scharf ausgeprägten Gratverlauf bis auf den Gipfel des Mont Maudit. Eine herausragende Tat, waren doch im Eis Steilheiten von bis zu 60 Grad zu meistern – zu Zeiten, als man ins Eis noch Stufen schlug – und im Fels der dritte und vierte Schwierigkeitsgrad.
→Der Kuffnergrat zieht eine feine Klinge zwischen Italien und Frankreich – und viele Kandidaten an.
Die nunmehr als „Kuffnergrat“ bekannte Route auf dem Grenzkamm zwischen Frankreich und Italien ist in den folgenden 150 Jahren immer beliebter geworden. Schon nach meinen ersten Hochtouren ist sie mir beim Schmökern im Montblanc-Führer aufgefallen, vor zehn Jahren durfte ich ihre Schönheit ein erstes Mal erleben. Die Schritte über die mächtige Wechte, die sich wie eine Haifischflosse übers dunstige Aostatal erhob, wie darüber der Horizont in der kompletten Farbpalette der Morgendämmerung leuchtete – dieses Bild werde ich nie vergessen.
Juni ist der neue August
Doch verändert hat sich seither viel. Von den damaligen Top-Verhältnissen Mitte August sind wir mittlerweile Ende Juni schon entfernt: Einen weit aufklaffenden Bergschrund, aber auch reges Treiben am Grat vermeldete der aktuelle Bergführerbericht in Chamonix (chamoniarde.com). Bald heißt es also Ende (Firn-)Gelände, an eine clevere und sichere Begehung wird nicht mehr zu denken sein – aber, verflucht nochmal, erfüllen wir uns doch gemeinsam diesen Touren-Traum! Motiviert bis in die letzte Haarspitze bin ich zugegeben nicht. Vielleicht auch, weil ich Angst davor habe, dass meine schönen Erinnerungen verblassen angesichts schlechterer Verhältnisse.
Eine massive Veränderung müssen Kuffnergrat-Kandidaten ja schon seit zwei Jahren in Kauf nehmen: Vom Biwak im Col de la Fourche, das 1935 errichtet und 1985 erneuert worden war, ist keine Spur mehr zu sehen. Es bildete den perfekten Stützpunkt für den Kuffnergrat, stürzte aber im August 2022 mitsamt seiner felsigen Basis auf den Brenvagletscher hinunter und wurde dabei komplett zerstört. Ursache: das Schmelzen des Permafrosts. Verletzt wurde zum Glück niemand, doch wir sind sensibilisiert.
→Von wegen verflucht: Der Mont Maudit schenkt uns feine Kletterzüge und himmlische Aussichten auf den wild gezackten Teufelsgrat.
Wir starten also von der Torinohütte, die von Courmayeur direkt per Seilbahn erreichbar ist. Nach einer atemberaubenden Akklimatisierungstour auf die Aiguille d’Entrèves klingelt am nächsten Tag bereits um ein Uhr unser Wecker. Ich bemühe mich, nicht zu fluchen. Wir kalkulieren drei Stunden ein bis in den Col de la Fourche, wobei Andis Motivation noch etwas höher einzustufen ist als meine Akklimatisation.
Andere standen offensichtlich früher auf oder starteten gleich von ihrem Zelt im Cirque Maudit. Als wir am Géant-Gletscher langsam die Flanke einsehen, glühen darin bereits die ersten Stirnlampen. Ruhigen Schrittes stapfen wir auf sie zu. Spuren im Firn über den Bergschrund und nur ein kurzer dünner Eisschlauch lotsen uns ohne langes Suchen durch die Finsternis höher. Der Tag zeigt gerade sein erstes wunderbares Licht, als wir erstmals Schlange stehen hinter zwei Seilschaften. Bitte warten!
Noch mehr Katastrophentouristen wie wir, die den Klimawandel live in Aktion sehen wollen. Vor uns ragt ein Felsriegel sehr senkrecht nach oben. War da vor zehn Jahren nicht Firn? Wenig kommt mir bekannt vor, den Fingern fröstelt und ich freue mich auf den Moment, wenn uns endlich die Sonne küsst und wärmt. Doch vor dem Genuss ist erst Geduld gefragt – und zwischendurch auch der Instinkt, wenn wir eine etwas andere Linie als die übrigen Seilschaften wählen.
→Die berühmte Querung über den Halbmond (Demi Lune) hoch über dem Aostatal.
Der Mond hat abgenommen
Die Route ist heute am gut frequentierten Grat eindeutig vorgegeben – das macht es einfacher, denn nur wenige Teilstücke des Grats sind ideale Linien, denen man einfach folgen kann. Ja, da ist sie endlich! Die riesige, halbmondförmige Wechte aus meiner Erinnerung, die in manchen Führern auch „Demi Lune“ genannt wird. Über all die Jahre hat dieser Mond zwar stark abgenommen, es ist aber immer noch eine eindrucksvolle und fotogene Stelle. Dahinter ragt die Pointe de l’Androsace wie ein goldener Leuchtturm in den blitzblauen Himmel. Ein Felszahn, den wir heute an seiner linken Seite umgehen. Der Firn trägt unsere Schritte noch gut, die Seilschaften verteilen sich besser, und der Fels ist für die Finger gewärmt. Wenn man nicht fluchen muss, sondern sich freuen darf, sind Hochtouren am schönsten.
Kommt man dem Ausstieg näher, ist Staunen garantiert beim doppelten Prachtblick in Nah und Fern. Am benachbarten Mont Blanc du Tacul blitzen die einmalig wilden Zacken des Teufelsgrats auf – hoffen wir, dass sein Fluch nicht zu uns hinüberhallt. Dahinter thronen Grandes Jorasses und Aiguille Verte – alles Gipfel mit Erinnerungen, die auf einmal wieder greifbar sind. Da stört es auch gar nicht, dass sich die Schritte hinauf zum Gipfel noch in die Länge ziehen wie ein Strudelteig. Oben fallen wir uns in die Arme, genießen das unglaubliche Panorama.
Weil der Wind unangenehm stark bläst und auf dem Gipfel des Mont Maudit ohnehin nicht viel Platz bleibt – er ist tatsächlich nur eine Felsspitze, wo zwei Bergsteiger gerade so stehen können –, machen wir uns rasch wieder an den Abstieg. Den möchten wir bald hinter uns bringen. Die Flanken von Mont Maudit und Mont Blanc du Tacul mit ihren unberechenbaren Sérac-Zonen scheue ich jedes Mal, wenn ich Richtung Aiguille du Midi absteige. Jederzeit können sich hier Eisblöcke lösen und auf die darunterliegende Spur donnern. 2012 kamen neun Menschen in einer Lawine ums Leben, vier Jahre später starben erneut drei Bergsteiger. An diesen Flanken wird der verfluchte Berg seinem Namen leider mehr als gerecht.
→Im Abstieg lauern in den Steilflanken von Maudit und Tacul gefährliche Séracs, die man besser nicht auf die leichte Schulter nimmt.
Wir fokussieren uns auf einen schnellen und sicheren Schritt. Nach der ersten heiklen Zone atme ich auf und beiße in mein Brot, zur Stärkung für den kurzen Gegenanstieg hinauf zum Mont Blanc du Tacul. Auch durch seine Steilfl anke hinunter heißt es noch einmal: höchste Konzentration. Im Gletscherbecken unter der Aiguille du Midi fällt uns ein kleiner Stein vom Herzen. Die unberechenbarsten und gefährlichsten Abschnitte haben wir hinter uns. Wir könnten jetzt den Gegenanstieg zur Midi-Seilbahn nehmen und dann nach Chamonix hinunterschweben oder mit der Panoramabahn übers Vallée Blanche zurück zur Torinohütte. Da wir noch gut in der Zeit liegen und die Gletscher Ende Juni noch passabel in Form sind, überqueren wir das Vallée Blanche zurück nach Italien zu Fuß. Staunend lassen wir dabei die riesigen Wände und Grate noch einmal an uns vorbeiziehen. Ein absoluter Bonus, „seinen“ Grat nochmal in Ruhe bestaunen zu dürfen. So bleibt der Weg kurzweilig zum Rifugio Torino, wo wir mit einem kühlen Birra Moretti auf die gelungene Tour anstoßen.
Wobei in diesem Falle ein Ottakringer besser passen würde. Denn der Erstbesteiger Moritz von Kuffner war nicht nur ein starker Alpinist und nobler Gastgeber, sondern auch Brauunternehmer, der die Ottakringer Brauerei in Wien einige Jahrzehnte lang führte. Ihr Bier fließt heute noch – bleibt zu hoff en, dass der Kuffnergratnicht bald davonfließt. Salute!
Marlies Czerny und Andreas Lattner bilden eine Seilschaft am Berg – und im Tal. Die Oberösterreicher standen auf allen Alpenviertausendern – unter hochzwei.media findet man sie im Internet.
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